definitely maybe.

definitely maybe.

Der Radiowecker im weiß gefliesten, kargen Badezimmer zeigte eine weitere vergangene Minute an – eine weitere Minute – 22.45 – eine weitere Minute, die sie unter dem geöffneten Fenster mit brennender Zigarette in der rechten Hand, den Kopf auf ihre Knie gestützt verbrachte. Es war eine relativ warme Mainacht, so dass sie auch im Bademantel nicht frieren musste. Dennoch liefen ihr immer wieder kalte Schauer über den Rücken. Ihre Eingeweide waren ein einziger Krampf, der in wechselnden Abständen einen Brechreiz hervorrief. Sie klammerte sich an das Fensterbrett über ihr und zog sich auf die Füße. Mit ausdruckslosem Blick sah sie auf einem dunklen Hinterhof vage die Umrisse der Mülltonnen. Irgendwo in der Wohnung über oder unter ihr hörte sie streitende Stimmen. Sie dachte daran, dass sie sich nie stritt. Es gab einfach keine streitbaren Themen, bei denen sie ihren Standpunkt hätte behaupten können. Ein Grund mehr das Badezimmer zu verlassen und die verdammte Frage zu beantworten, die sie in diesem beängstigend weißen Raum gefangen hielt, vielleicht aber auch ein Grund die Nacht unbeweglich genau hier zu verbringen. Die Nacht, die ihr bei dem Gedanken an diese aller möglichen Alternativen tödlich erschien. Sie blickte aus dem Fenster und die Dunkelheit schien ihr unendlich – die Dunkelheit, die der spärliche Mondschein nicht wirklich trüben konnte. Sie setzte sich in den Fensterrahmen und sah in die Nacht hinaus wie auf ihr Leben, das vor ihr ablief, ohne das Gefühl eingreifen zu können. Sie dachte, dass das wohl einer der Augenblick sei, von denen die Menschen gemeinhin behaupteten sie änderten das Leben. Sie war bloß unfähig einen Schritt weiter nach vorn zu tun. Sie mochte die Dunkelheit in ihrem Leben und das letzte, was sie verkraften konnte oder wollte war, dass es hell würde und sie den Weg vor sich erkennen würde. Sie schrak aus ihren Gedanken hoch, als lautstark gegen die Zimmertür geschlagen wurde und eine allzu vertraute Stimme sie dazu aufforderte endlich das Bad zu verlassen, da sie anstoßen wollten. Unfähig zu antworten sammelten sich erste Tränen in ihren Augenwinkeln, die kurz darauf wie Regentropfen auf ihre nackten Füße fielen. Die Stimme hinter der Tür wechselte unüberhörbar den Tonfall und die beklemmenden Gefühle in ihrer Brust verschlugen ihr fast den Atem. Sie hatte aufgehört über ihre Antwort nachzudenken und traf die Entscheidung, die sie selbst und ihr ganzes Leben definierte. „Ich werde diese Entscheidung nicht treffen“, murmelte sie apathisch während sie versuchte, sich an das Fensterbrett klammernd, mit dem rechten Fuß das Spalier unter dem benachbarten Fenster zu erreichen.
„Junge Frau, kann ich Ihnen irgendwie helfen? Was ist Ihnen denn zugestoßen?“ – Die Frage kam ihr im ersten Moment absurd vor und beschäftigte sie unweigerlich. Was war ihr eigentlich zugestoßen? Erst Minuten später wurde ihr klar was der kleine, glanzköpfige uniformierte Mann meinte. Sie stand barfuß in einem weißen Bademantel, der ihr viel zu groß war, an einer Bushaltestelle und weinte. Der Mann, der sie angesprochen hatte, war ein Busfahrer, der aus seinem Bus heraus ihr zurief. Ohne einen weiteren Gedanken stieg sie ein. Unter den neugierigen bis verstörten Blicken der Mitreisenden setzte sich der Bus in Bewegung, um nach ein paar Metern abrupt zu bremsen. Sie erschrak. Ein junger Mann betrat, völlig außer Atem, den Innenraum des Busses. Die leuchtende Anzeige oberhalb des Fahrers zeigte flackernd, dass es nunmehr Mitternacht geworden war und ihr Herz schien einen Moment still zu stehen bis sich der Mann neben ihr niederließ und mit der ihr vertrauten Stimme, die eine seltsame, befremdliche Färbung annahm, die drei drängenden Worte an sie richtete „Was ist los?“. Der Busfahrer blickte interessiert in den Spiegel während der Bus startete und die Nacht immer schneller vorbei flog. Sie drehte den Kopf, schaute ihm ins Gesicht und erkannte seine Hilflosigkeit. Sie öffnete den Mund, um ihm zu sagen, dass sie nicht die Entscheidung treffen konnte wie ihr weiteres Leben aussehen würde, dass allein der Gedanke an die Determination, die ihr der Blick nach vorne bot, ihr alle Glieder lähmte. Doch was sie sagte, war „Ich wollte nicht nein sagen, aber noch weniger ja. Ich…“. „Manchmal gibt es eben nur alles oder nichts. Das sind die Momente, die uns definieren. Aber was für ein Leben ist das, wenn man davor immer nur wegläuft“, fiel er ihr ins Wort. Während wieder neue Tränen von ihrer Nase rollten sagte sie so leise, dass kaum sie selbst es wahrnehmen konnte „Meins“. Er fing an zu lachen. Unüberhörbar war die Verzweiflung, die ihn umgab. Lachend steckte er seinen Kopf zwischen die Knie, so dass sie nur seine dunklen Locken noch sehen konnte. Er trug noch immer dasselbe dunkle Hemd, das er getragen hatte, als sie ihn im Schlafzimmer hatte stehen lassen. In seiner Brusttasche glaubte sie die Ausbeulung der Schachtel zu erkennen, die er vorhin in Händen gehalten hatte. Er hob seinen Kopf und sie erkannte die feuchten, blauen Augen, die sie fragend ansahen. Doch ihr waren die Antworten ausgegangen und sie hoffte nur, dass man ihr die Entscheidung abnehmen würde. Im Bus war es gespannt still geworden. Die wenigen Fahrgäste versuchten offensichtlich gebannt die Unterhaltung der beiden zu hören. Auf seiner Armbanduhr sah sie, dass sich die Zeit auf der Uhr auf Null Uhr Fünfzehn bewegte und ein dumpfer Aufprall schleuderte sie gegen den Sitz vor ihr und noch bevor sie den Schmerz verorten konnte, der sie mit schockierender Heftigkeit durchzuckte, wurde es dunkel und sie hörte zersplitterndes Glas in ihrer unmittelbaren Nähe und kreischendes Metall, was sie fast taub werden lies. Instinktiv wollte sie seine Hand greifen, doch griff immer nur ins Leere. Sie konnte ihn nicht mehr erkennen, sah nur noch fremde, dunkle Körper, die hin und her geschleudert wurden und erschrocken kam ihr der Gedanke, dass sie das entschieden hatte, was sicher absurd war, sie jedoch nie mehr loslassen würde.
Fast wie schwarz wirkendes Blut bedeckte sein Gesicht, so dass sie es kaum als das seine erkannte. Doch es war eindeutig. Alles oder nichts, Leben oder Tod. Und diesmal konnte sie es nicht, konnte sich dem Moment nicht entziehen – dieser Moment definierte sie und keine Entscheidung war mehr wichtig. Dieser Moment negierte alles und verkehrte alles in etwas Fremdes. Der Schmerz brachte sie fast um, als sie in seine blauen Augen blickte, die unter dem schwarzen Film starr hervor leuchteten. Sie hielt seine Hand und drückte sie so fest sie konnte, als ob sie sich festhalten könnte. Die Stille, die sie als erstes wahrgenommen hatte, stellte sich als Illusion heraus, denn überall um sie herum waren Menschen, die scheinbar willkürlich um den riesigen dunkelblauen Bus herumliefen, der fast wie ein Kunstwerk wirkte in seiner Zerstörung. Feuerwehrleute waren bemüht das Feuer, welches das Kunstwerk in sich barg, zu löschen. Sie nahm in dem Geschrei eine Stimme wahr, die auf sie einen Moment lang beruhigend wirkte. Sie drehte sich um und sah ein rotes Autowrack ein wenig abseits des Busses am Straßenrand liegen. Sie erkannte ein blondes Mädchen unmittelbar daneben, das, auf dem Boden liegend, schien, als ob es in der eigenen Blutlache ertränke. Durch die kaputten Scheiben des Autos hörte sie, dass es das Radio war, das noch immer lief und sie für einen Moment hatte ruhig werden lassen. Der Moderator verkündete, dass es nun zwei Uhr sei und sprach über Noel Gallagher, der in dieser Nacht vierzig Jahre alt wurde. Sie mochte die Sendung und den Moderator und die Musik, die um diese Zeit gespielt wurde. Die Stimme hatte sie schon durch viele Nächte begleitet und in dieser Nacht schien sie das einzige zu sein, was es ihr ermöglichte weiter zu atmen, was ihr die Kraft gab seine Hand loszulassen und wankenden Schrittes, gekrümmt unter den undefinierbaren Schmerzen, Richtung Straße zu gehen. Diese Stimme verband sie mit etwas, was nicht länger existierte, aber die Verbindung würde es immer. Aus dem Autowrack hörte man wie zum Trotz „Live forever“ von dem Album, dass er ihr geschenkt hatte „Definitely maybe“.